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Ende der Galeerenjahre - Verdis Weg zur Wahrheit der Gefühle

Pausen-Essay zur Live-Übertragung von „Luisa Miller“ aus der Met am 25. 3. 06 in Bayern 4 Klassik

Redaktion: Annika Täuschel

Autor: Bernhard Neuhoff

 

Sprecher 1: Hemma Krumm

Sprecher 2: Autor

Zitator: Peter Veit

 

 

Geräusch Foyer

 

Sprecher 1: Der 8. Dezember 1849, das Teatro San Carlo in Neapel. Sechs Ränge mit 185 Logen türmen sich übereinander. In einem der größten Theater Europas ist gerade ist der Vorhang gefallen. Noch liefern sie sich Gefechte im Zuschauerraum, Verdis Gegner und Anhänger. Rufe: „Viva Maestro“, „Viva Verdi!“, Zischen, Bravi, Applaus.

 

Geräusch

 

Sprecher 1: Diese Musik spaltet das Publikum. Irgendetwas ist neu daran, neu und anders - und das wird von den neapolitanischen Opernfans keineswegs goutiert.

 

Sprecher 2: Bereits Verdis letzte Oper für das Teatro San Carlo war ein Misserfolg: Alzira, 5 Jahre vor Lusia Miller uraufgeführt, war beim Publikum durchgefallen. Schuld daran war, dessen sind sich Verdis Freunde sicher, sein Kollege, der Komponist Vincenzo Capecelatro. Jetzt, bei „Luisa Miller“, versucht man deshalb ängstlich zu verhindern, dass Capecelatro Verdi gegenübertritt. Nicht, dass er an den Intrigen beteiligt wäre, die auch diesmal wieder angezettelt wurden. So etwas kann ihm, Giuseppe Verdi, dem bestbezahlten Komponisten Italiens, ohnehin nichts mehr anhaben.

 

Zitator: Man schreibt mir, dass alle nur möglichen Ränke geschmiedet werden, um Luisa Miller durchfallen zu lassen. Lauter Hornochsen! Glauben sie etwa, mit diesen widerwärtigen Ränken könnten sie die Oper, wenn sie gut ist, daran hindern, in der Musikwelt die Runde zu machen?

 

Sprecher 2: Niemand hätte das vermocht - da hatte Verdi recht; und Vincenzo Capecelatro, ein mäßig erfolgreicher Komponisten-Kollege, wäre auch nie auf den Gedanken gekommen. Im Gegenteil, er verehrt und bewundert Verdi. Nur hat er den bösen Blick, il mal’ occhio, davon sind Verdis Freunde fest überzeugt. Das bringt Unheil, und so muss um jeden Preis verhindert werden, dass sich die beiden begegnen. Capecelatro jedoch steigt, kaum dass der Vorhang gefallen ist, aus dem Parterre des riesigen Zuschauerraums von San Carlo, klettert auf die Bühne und bahnt sich unaufhaltsam seinen Weg durch die begeisterten Verehrer, durch Sänger und Musiker, bis er vor Verdi steht, Auge in Auge. In diesem Moment stürzt unmittelbar hinter den beiden krachend eine Kulisse um. Große Aufregung; Durcheinander; Schreie. Niemand ist verletzt - um wenige Zentimeter hat die stürzende Bretterwand Verdi verfehlt.

 

Geräusch - Publikum

 

Sprecher 1: Nichts, so scheint es, vermag Verdis Siegeszug aufzuhalten - weder Intriganten noch Zischer, nicht einmal „der böse Blick“. Stadt für Stadt, Theater für Theater erobert Verdi sein Heimatland. Politisch ist es zersplittert, musikalisch jedoch durch die unblutige Macht seiner Melodien vereinigt. Verdi hasst sie, die fremden Herrscher und reaktionären Fürsten, die fast überall noch das Sagen haben. Gerade erst wurde die nationale Revolution blutig niedergeschlagen. In Norditalien herrschen wieder die Habsburger, vor Neapel liegen französische Kriegsschiffe. Das allerdings kommt Verdi diesmal gelegen. Während der Proben nämlich war dem Impresario des Teatro San Carlo das Geld ausgegangen. Ultimativ verlangt der Komponist eine Garantie über die ihm zustehenden 3000 Dukaten, andernfalls reise er unverzüglich ab; die unfertige Partitur werde er mitnehmen. Der Theaterdirektor droht, ihn verhaften zu lassen. Verdi kontert:

 

Zitator: Ehe Sie den Haftbefehl erwirkt haben, bin ich längst auf eins der französischen Kriegsschiffe gelangt, die draußen im Hafen liegen. Von dort aus wird man mich in Sicherheit bringen.

 

Sprecher 1: Das wirkt. Verdi bekommt sein Geld.

 

Sprecher 2: Tutto nel mondo è burla - die ganze Welt ist ein Irrenhaus. Und die Oper ist eine Welt im Kleinen. Vorn, auf der Bühne, spielen pathetische Melodramen. Drumherum jedoch, in der sozialen Wirklichkeit, werden Possen gegeben: bei der Selbstdarstellung des Publikums im Zuschauerraum, beim Gerangel der Sänger hinter der Bühne, bei den Kämpfen mit der Zensurbehörde und beim Anheuern der bezahlten Claquere und Zischer. Verdi hat es gelernt, sich in diesem irrwitzigen Betrieb zu behaupten. Wie viel Schweiß und Nerven es ihn gekostet hat, weiß niemand zu sagen. 7 Jahre liegen zwischen dem spektakulären Durchbruch mit „Nabucco“ 1842 und der Uraufführung von „Luisa Miller“. In diesen 7 Jahren entstehen nicht weniger als 12 Partituren - allesamt unter unvorstellbarem Zeitdruck. Die Impresarii pochen unerbittlich auf die Abgabetermine. Während der Arbeit an „Alzira“ legt Verdi ärztliche Atteste vor - vergeblich. An „Attila“ schreibt er vom Fieber geschüttelt - es hilft nichts. Er muss liefern. [Ein früher Biograph schreibt:

 

Zitator: Ständig belauert vom Impresario, der über seine Beute wacht wie ein Tierbändiger über den Tiger im Raubtierkäfig, musste der arme Komponist am festgesetzten Tag seine Oper abliefern. Und wehe, wenn er bei der Komposition nicht vorgesorgt hatte, dass sie alle zu ihrem Sonderapplaus kamen: Der eifersüchtige Tenor, der geschwätzige Sopran, der zornmütige Alt, der Bariton, der seriöse Bass, der Bassbuffo: die letzteren drei im Offensiv- oder Defensiv-Bündnis vereint gegen die Ansprüche der größeren Partien.]

 

Sprecher 1: In einem berühmten Brief schreibt Verdi später, seine frühen Jahre habe er auf einer Galeere verbracht. Galera - das steht im Italienischen nicht nur für jene antiken Schiffe, auf denen angekettete Sklaven zum Takt einer Trommel rudern mussten. Galera, das heißt auch Gefängnis. Es war allerdings, um im Bild zu bleiben, ein luxuriöses Gefängnis. Denn Verdi eilte auf seiner galera von Triumph zu Triumph. Und wenn er während dieser Jahre ein Sklave war, dann der seines eigenen Erfolges. Ein Jahr vor der Uraufführung von „Luisa Miller“ kauft er das riesige Landgut Sant’ Agata, kurz darauf erwirbt er in Busseto einen feudalen Palazzo.

 

Sprecher 2: Giuseppe Fortunio Francesco Verdi, Sohn eines Schankwirts aus einem armseligen Dorf in der Po-Ebene, ist ein self-made-man. Seinen Reichtum hat er auf ungewöhnliche Weise erworben; aber der ausgeprägte Geschäftssinn, mit dem er ihn vermehrt, zeigt ihn als typischen bürgerlichen Aufsteiger des 19. Jahrhunderts. „Luisa Miller“ ist Verdis erste Oper, die über weite Strecken in einem bürgerlichen Milieu spielt: Millers Haus, die tanzenden Tiroler Bauern, die betende Luisa - all das nimmt fast schon die Atmosphäre von Heimatfilmen der 50er Jahre vorweg. Es liegt ein Hauch von kleinbürgerlicher Alpenfolklore, von handkolorierter Ansichtskarte über der Handlung.

 

Sprecher 1: Doch es geht langsam voran mit der Machtübernahme des Bürgertums. Gerade in Neapel, dem Ort der Uraufführung, halten sich die aristokratischen Umgangsformen besonders hartnäckig. Stendhal, der große französische Romancier, hat sie beschrieben, die kleinen grotesken Auftritte, die ein Opernbesuch für einen Bürger damals mit sich brachte.

 

Zitator: Heute abend, als ich im San Carlo war, lief ein Gardist hinter mir her und verlangte, ich solle meinen Hut absetzen. In einem Zuschauerraum, viermal so groß wie die Pariser Oper, hatte ich irgendeinen Prinzen nicht bemerkt. Man will seinen Parkettplatz verlassen: ein vornehmer Herr, der im Kreise um sich gespuckt hat und an dessen Kammerherrenschlüssel man hängen bleibt, brummt etwas von Respektlosigkeit. Von so viel Größe angeödet geht man hinaus und verlangt seine Garderobe: die 6 Pferde einer Prinzessin versperren eine Stunde lang die Tür; man muss warten und kriegt einen Schnupfen.

 

Sprecher 1: Auch bei der Uraufführung der Luisa Miller dürften sich solche Szenen noch abgespielt haben.

 

Sprecher 2: Und musikalisch? Wie mag es geklungen haben, das Orchester des Teatro San Carlo? Immerhin galt es als eines der besten in Italien. Felix Mendelssohn-Bartholdy hat es 1831 auf seiner großen Reise in den Süden gehört. Er schreibt:

 

Zitator: Orchester und Chor sind hier wie in einer untergeordneten Mittelstadt bei uns, nur noch roher und unsicherer. Der erste Violinist schlägt durch die ganze Oper hindurch die 4 Viertel des Taktes auf einen blechernen Leuchter, so dass man es zuweilen mehr hört als die Stimmen (es klingt etwa wie obligate Castagnetten, nur stärker) und trotzdessen sind Orchester und Sänger nie zusammen; das ganze ist ohne den geringsten Geist, ohne Feuer und Lust.

 

Sprecher 2: Wenn man deutsche Komponisten zu den Leistungen italienischer Opernorchester befragte, so war es allerdings deren Meinung nach ohnehin nicht besonders schade um die Musik. Richard Wagner sprach aus, was man jenseits der Alpen allgemein dachte:

 

Zitator: In den Händen der italienischen Opernkomponisten ist das Orchester nichts anderes als eine monströse Guitarre zum Accompagnement der Arie.

 

Sprecher 2: Verdi, der Leierkasten-Musiker - dieses Klischee wurde beileibe nicht nur von Deutschnationalen wie Wagner, Strauss oder Pfitzner verbreitet. Mag sein, dass sich da in die Verachtung ein Quäntchen Neid mischte - denn die deutschen Komponisten schafften es nun mal viel seltener, mit ihren Melodien bis in die Leierkästen vorzudringen.

 

Musik - Verdi Leierkasten

 

[Sprecher 1: Das Klischee des Leierkastenmusikers hatte im Übrigen nicht nur in Deutschland Konjunktur. Hector Berlioz schreibt:

 

Zitator: Für die Italiener ist die Musik ein sinnliches Vergnügen, nichts anderes. Sie haben vor dieser schönen Kundgebung des Geistes kaum mehr Achtung als vor der Kochkunst. Sie wollen Partituren, deren Inhalt sie auf den ersten Schlag, ohne Überlegung, ja selbst ohne Aufmerksamkeit genießen können, genau so, wie sie mit einer Schüssel Makkaroni verfahren würden.]

 

Sprecher 1: Auf solche Vorbehalte traf auch „Luisa Miller“. Der französische Kritiker Paul Scudo etwa verriss 1851 die Pariser Erstaufführung genüsslich.

 

Zitator: Verdi, der ein bisschen mehr vom Kontrapunkt versteht als seine Bewunderer, aber doch nicht genug, um den Erfordernissen gewisser dramatischer Situationen gerecht zu werden, ist gezwungen, die von ihm verspürten Effekte zu überstürzen. Deshalb diese abgehackten Phrasen, diese brutalen strette, die nichts anderes darstellen, als die Explosion einer Idee, die der Komponist nicht vorzubereiten vermochte.

 

Sprecher 2: Für heutige Hörer sind diese Probleme wohl Vergangenheit. Gerade die emotionale Unmittelbarkeit von Verdis musikalischer Sprache ist uns näher denn je: seine geniale Kontrastdramaturgie, das flackernde Helldunkel, das so charakteristisch ist für seinen Ton. Was heutige Hörer an „Luisa Miller“ irritieren mag, ist ganz im Gegenteil die manchmal allzu große Harmlosigkeit. Und die geht zweifellos aufs Konto des Librettos. Salvatore Cammarano hat es gezimmert, ein erfahrener Theaterpraktiker aus Neapel. Seine Vorlage, das Drama „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller, stutzte er radikal zurück auf eine ebenso geschickt wie bieder gebaute Nummernoper. „Kabale und Liebe“ ist in der Schärfe der politischen Aussage Schillers vielleicht radikalstes Stück. So gut wie nichts davon bleibt übrig in „Luisa Miller“. Das lag natürlich vor allem an der Zensur, die in Neapel noch strenger war als anderswo in Italien. Offene Kritik an der Willkür des Adels hätte sie niemals geduldet.

 

Sprecher 1: Aber es gab da noch eine andere Instanz, die mindestens ebenso unerbittlich war - und das waren die Konventionen des Opernbetriebs. Verdi hätte zu gern der Federica mehr Profil gegeben. Eine echte Kontrastfigur zu Luisa schwebte ihm vor, eine schillernde, reiche Persönlichkeit - wie ihr Vorbild, die Lady Milford in „Kabale und Liebe“, eine ehemalige Mätresse des Fürsten. Federica dagegen ist eine ehrbare und ansonsten weitgehend eigenschaftslose Herzogin. An seinen Librettisten schreibt Verdi:

 

Zitator: Ich habe soeben den Entwurf zu „Luisa Miller“ erhalten und ich bekenne Ihnen, dass ich sehr gerne zwei prime donne gehabt hätte - und dass mir die Mätresse des Fürsten in der ganzen Dimension ihres Charakters gefallen hätte, genau so wie Schiller sie gestaltet hat.

 

Sprecher 1: Geht nicht!, antwortetet Cammarano: es kann nur eine Primadonna geben. Schon begrifflich sind zwei prime donne ein Ding der Unmöglichkeit. Und in ganz Italien werde man keine Sängerin finden, die eine zweite Primadonna neben sich dulden würde.

 

Sprecher 2: So sehr sich Verdi von den Fesseln der Opernkonventionen zu lösen versucht, so geschickt weiß er andererseits die Erwartungen des Publikums zu bedienen. In „Luisa Miller“ setzt er bei Gelegenheit souverän und ungeniert auf Raster und Rezepte - etwa beim Chor der Landmädchen im ersten Akt. Schablonen haben nämlich einen unbestreitbaren Vorteil: Sie vereinfachen die Kommunikation mit dem Publikum. Die Opernkonventionen funktionieren dabei wie ein stillschweigender Pakt zwischen Autoren und Zuschauern. Verdi hat seine Verpflichtungen aus diesem Vertrag stets sorgfältig eingehalten: Als Komponist sah er stets sich in der Bringschuld - nicht das Publikum.

 

Sprecher 1: Seine Lebensleistung jedoch bestand darin, dass er dem Publikum immer dann einen neuen Pakt vorschlug, wenn sich das, was er mitteilen wollte, mit den althergebrachten Konventionen nicht mehr vertrug. Dabei hat er nie einseitig gehandelt, nie sein Publikum vor die Alternative gestellt: Friss oder stirb. In Deutschland galt seit Beethoven die Devise: Wenn das Publikum das Genie nicht versteht, ist das Publikum schuld. In Italien waren Opern, die nicht verstanden wurden, schlechte Opern.

 

Sprecher 2: Diesen Unterschied zwischen der deutschen und der italienischen Musik hat niemand plastischer auf den Punkt gebracht als Arrigo Boito. Später sollte er als Librettist der beiden letzten Meisterwerke Verdis unsterblich werden. 1870, gut 10 Jahre vor seiner Zusammenarbeit mit Verdi, veröffentlicht Boito eine Erzählung mit dem schönen Titel „La musica in piazza“ - Musik auf der Piazza.

 

Sprecher 1: Ein Poet aus der Lombardei und ein deutscher Musiker streiten über die ewige Frage, wer den Lorbeer davonträgt: die deutsche Instrumentalmusik oder die italienische Oper. Der Deutsche pocht darauf, dass eine solide musikalische Wissenschaft die Bedingung der Inspiration sei. Der Italiener hält dagegen: Die Inspiration ist das Wissen - ganz unmittelbar! Erregt ruft der Deutsche:

 

Zitator: „O mein Deutschland! In dem geistreichen, harmonischen und weisen Gesetz, das Welt belebt, sehe ich den Schatten der Seele Beethovens!“

 

Sprecher 1: Da schlägt der Lombarde auf den Tisch und schleudert dem Deutschen einen völlig unbekannten Namen entgegen:

 

Zitator: „Barbapedàna! Barbapedana! Der ist mein Beethoven!“

 

Sprecher 1: Dieser ominöse Anti-Beethoven erweist sich als fahrender Sänger, der an Sommerabenden in den Gartenlauben vor den Toren Mailands zur Gitarre singt. Der deutsche Musiker und der italienische Poet machen sich gemeinsam auf den Weg und lauschen Barbapedanas Gesang, befeuert von dem einen oder andern Becher Wein. Und siehe da: Nicht ohne Rührung seinerseits entdeckt der Italiener Tränen auf den Brillengläsern des Deutschen...

 

[Sprecher 2: Was dem deutschen Musiker in dieser Erzählung von Arrigo Boito widerfährt, ist so etwas wie eine feierliche Einweihung ins innerste Geheimnis der italienischen Oper. La musica in piazza - das ist nichts anderes als die Musik der einfachen Leute, die Volksmusik. Nie hat die italienische Oper den lebendigen Kontakt zu dieser „Musik auf der Piazza“ verloren. Egal ob es die Gitarre des fahrenden Sängers Barbapedana aus Boitos Erzählung oder die vielgeschmähte Riesengitarre des Verdi’schen Orchesters ist, es handelt sich in jedem Fall um ein Instrument der Beschwörung von unwiderstehlicher Macht. Jeder Widerstand ist zwecklos - jedenfalls wenn der Hörer mit einem Glas Wein unter südlichem Sternenhimmel sitzt.]

 

Musik: Caruso Vieni sul mar

 

Sprecher 2: Beethoven, die Personifikation der deutschen Instrumentalmusik, ist ein Individualist. Barbapedána dagegen, die Verkörperung der italienischen Vokalmusik, singt für ein Kollektiv. Auch Verdis Musik wurzelt in diesem letztlich kollektiven Singen. Das zeigt sich am deutlichsten in den Frühwerken, den Opern der Galeerenjahre. In ihnen ist konsequenterweise meist der Chor die eigentliche Hauptfigur. Nachlesen kann man das schon im allerersten Buch, das über Verdi 1859 von dem Musikgelehrten Abrama Bavesi geschrieben wurde.

 

Zitator: Dieser grandiose Gesang hebt jede Individualität auf, um sie in eine Sache der Allgemeinheit zu verwandeln. Selbst dann, wenn er von nur einer einzigen Person gesungen wird, dringt er in die Seele des Zuhörers ein als Melodie eines ganzen Volkes, so als würde diese Melodie tatsächlich von einem Volk, einer Kaste oder einer großen Gruppe von Menschen gesungen.

 

Sprecher 1: Genau an diesem Punkt jedoch macht Verdi in „Luisa Miller“ einen entscheidenden Schritt über sein Frühwerk hinaus. Wenn etwa Rodolfo seine wunderbare Arie im 2. Akt singt, „Quando le sere al placido“, dann spricht wirklich ein Individuum von seinem ganz persönlichen Schmerz. Auch der gesamte dritte Akt, die sich aufschaukelnden Dialoge zwischen Luisa, Miller und Rodolfo entfalten einen expressiven Sog und einen Reichtum an Zwischentönen, der neu ist bei Verdi. Hier legt er den Grundstein zu einer Ausdruckswelt, die sich dann in den großen Liebesduetten der reifen Werke entfalten wird - etwa am Schluss von „Aida“.

 

Sprecher 2: Dennoch bleibt Verdi auch in „Luisa Miller“ dem Geist des Volkssängers Barbapedána treu. Sein unbeirrtes Festhalten am schlichten Prinzip Melodie und Begleitung ist das genaue Gegenteil von dem, was zur gleichen Zeit in Deutschland passiert. Man muss dazu nur den Liebestod von Luisa und Rodolfo mit seinem germanischen Gegenstück vergleichen. In Wagners „Tristan“, 8 Jahre nach „Luisa Miller“ entstanden, gipfelt Isoldes Schlussmonolog in den Worten „ertrinken - versinken“. Dabei geschieht musikalisch genau das, wovon der Text spricht: Der Gesang versinkt im Orchester, der symphonische Sound überschwemmt die Stimme.

 

Sprecher 1: Ganz anders bei Verdi: Wenn Luisa „Ah vieni meco“ singt, komm mit mir in den Tod, und Rodolfo antwortet: Sì, vengo teco, dann werden die Sänger nur von der Harfe und sphärischem Streichertremolo begleitet. Nach und nach setzt dann das ganze Orchester ein, doch nur, um auf dem Höhepunkt plötzlich zu verstummen - es tritt gewissermaßen bescheiden zur Seite, wenn die Stimmen ihren ganz großen Auftritt haben.

 

Sprecher 2: Tatsächlich ist das Orchester bei Verdi im Wortsinn sekundär: Es wird nachträglich hinzugefügt. Beim Komponieren beginnt Verdi stets mit den Gesangsstimmen; dazu notiert er meist nur einen Bass. Mit diesem vom Umfang her ziemlich mageren Noten-Material geht er in die Proben mit den Solisten. Die Instrumentalstimmen werden erst im allerletzten Moment niedergeschrieben, unmittelbar bevor die Orchesterproben beginnen.

 

Sprecher 1: Diese Arbeit ist in knapp einer Woche erledigt - was, wenn man sich allein die enorme Schreibleistung vor Augen hält, ziemlich rasant ist. Doch die eigentliche kompositorische Arbeit ist ja bereits getan. Verdis Phantasie entzündet sich beim Komponieren der Singstimme:

 

Zitator: Wenn ich selbstversunken mich mit meinen Noten herumschlage, dann klopft das Herz, fließen Tränen aus den Augen, und das Mitgefühl und die Freude sind unaussprechlich.

 

[Sprecher 1: Verdis enormes Arbeitstempo steht im größtmöglichen Gegensatz zu Wagners schwerfälliger Muse. Aufs Papier bringen, was er mit dem inneren Ohr gehört hat - das war für Wagner ein überaus langwieriger Vorgang. Für Verdi bestand das Hauptproblem oft darin, im Augenblick der Inspiration mit dem Aufschreiben nachzukommen. Das schnelle Arbeitstempo war also nicht nur dem enormen Termindruck der Galeerenjahre geschuldet. Verdi sagt:

 

Zitator: Die Schwierigkeit besteht allein darin, so schnell zu schreiben, dass der musikalische Gedanke in derselben Geschlossenheit ausgedrückt werden kann, mit der er in den Sinn gekommen ist. Um gut zu schreiben, muss man schnell schreiben können, sozusagen in einem Atemzug.]

 

Sprecher 2: Der Text ruft im Komponisten Gefühle wach. An ihnen entzündet sich die Inspiration, die sich möglichst spontan und unmittelbar in den Gesangslinien niederschlägt. So wird die Stimme zum Seismograph der Gefühle - das allein garantiert für Verdi wahrhaftigen Ausdruck.

 

Zitator: Ah, wenn die Künstler für einmal dieses Wahre verstehen könnten, dann gäbe es keine Zukunfts-Musiker und solche der Vergangenheit mehr, und keine puristischen, realistischen, idealistischen Maler; und keine klassischen und romantischen Dichter, sondern wahre Dichter, wahre Maler, wahre Komponisten.

 

Sprecher 2: Immer wieder spricht Verdi von dieser „Wahrheit“ der Musik. Was er damit meint, ist kein platter Realismus, sondern die Wahrheit der menschlichen Seelenzustände.

 

Zitator: Das Wahre kopieren, mag eine gute Sache sein, aber das Wahre erfinden, ist viel besser.

 

Sprecher 2: Si non è vero, è ben trovato - Wenn es nicht wahr ist, so ist es immerhin gut erfunden. Diese saloppe Redensart stellt Verdi auf den Kopf: So gut erfunden ist seine Musik, dass sie in ihren großen Momenten die Wahrheit der Gefühle findet.





Luisa Miller
Giuseppe Verdi
Salvatore Cammarano nach Friedrich Schillers Kabale und Liebe

 

Erster Akt – Die Liebe

Luisa feiert mit Vater Miller ihren Geburtstag. Auch ihr Freund Carlo kommt zu Besuch. Miller misstraut dem Verehrer. 

Im Selbstgespräch kommt Miller zu der Einsicht, Luisa solle sich ihren zukünftigen Ehemann selbst aussuchen. Entsetzt realisiert er, dass Carlo eigentlich Rodolfo, der Sohn des Grafen Walter, ist.

Walter wiederum möchte Rodolfo mit der einflussreichen Federica von Ostheim, seiner Jugendfreundin, verheiraten. Rodolfo vertraut ihr an, dass er Luisa liebt.

Miller berichtet seiner Tochter von Rodolfos wahrer Identität und seiner bevorstehenden Hochzeit mit Federica. Rodolfo jedoch beweist Luisa die Aufrichtigkeit seiner Gefühle. Walter dringt in Millers Haus ein und bekräftigt, dass er Rodolfos Entscheidung für Luisa nicht akzeptieren wird. Miller stellt sich schützend vor seine Tochter. Rodolfo bedroht seinen Vater, doch der entwaffnet ihn. Schließlich greift Rodolfo zum letzten Mittel und will verraten, auf welche Weise sein Vater Graf geworden ist. Walter lässt sich nicht erpressen.


Zweiter Akt – Die Intrige

Luisa erfährt, dass ihr Vater festgenommen wurde. Um ihn zu retten schreibt sie nach innerer Zerreißprobe einen Brief, in dem sie ihre Gefühle für Rodolfo leugnet.

Walter überdenkt die Situation: Er hat vor Jahren einen kinderlosen Verwandten ermordet, um den Machterhalt zu sichern. Rodolfo ist der einzige Zeuge der Tat.

Luisa muss nun auch vor Federica wiederholen, dass sie Rodolfo nie geliebt habe.
Rodolfo erfährt von Luisas Bekenntnis, ohne sie kann er nicht weiterleben.


Dritter Akt – Das Gift

In einem Brief will Luisa Rodolfo erklären, dass sie zur Lüge gezwungen wurde und ihm ihren Entschluss mitteilen, sich das Leben zu nehmen. Miller, aus der Haft entlassen, fragt nach dem Brief und erfährt so von Luisas Selbstmordabsichten. Er beschwört sie, ihn im Alter nicht allein zu lassen. Gerührt entschließt Luisa sich, gemeinsam mit ihrem Vater zu fliehen.
Betend wird Luisa von Rodolfo überrascht. Auf seine Frage hin bestätigt sie, ihn verleugnet zu haben. Rodolfo vergiftet sich und Luisa. Erst angesichts des Todes erkennen sie, dass sie um ihre Liebe betrogen wurden.

© Bayerische Staatsoper



 

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